2013
ÖWF on Mars – Daniel Carinsson – Day 8
Liebe Leserinnen und Leser!
Wir starten in den achten Tag der Marsmission mit einem Aphorismus der Philosophin Christa Schyboll …
„Die Tatsache, das Wichtige vom Montag am Mittwoch für nichtig zu erklären, deutet nicht zwangsläufig auf eine sprunghafte Natur, sondern unter Umständen auf die geniale Fähigkeit schneller Erkenntnis, die spontan Prioritäten verschieben lässt.“
Da hängen wir doch gleich eine Geschichte meines geschätzten Kollegen Daniel Carinsson an … „gypsy extraordinaire der Sterne“.
Neun, oder die Marsmission – Tag der Entscheidung
Kurzgeschichte von Daniel Carinsson
„Neun, verehrte Senatorinnen und Senatoren, verehrtes Präsidium, liebe Kolleginnen und Kollegen, neun scheint eine beinahe magische Zahl zu sein, bei diesem Thema, das uns heute, das uns nun schon so lange, so intensiv beschäftig und das gerade in den letzten Monaten so hohe Wellen geschlagen und bereits für große Schmerzen gesorgt hat.“ Ich hob meinen Blick von den Manuskriptseiten vor mir, deren Zeilen und Worte ich seit Wochen auswendig konnte, und ließ ihn einen Augenblick unfokussiert über die dicht gefüllten Reihen des Plenums vor mir gleiten. Eine atemlose Stille erfüllte den Raum, nachdem meine ersten Worte verflogen waren, aber die Anspannung aller Anwesenden schien wie das tiefe Dröhnen eines Maschinenraumes im untersten Deck eines Ozeanriesen durch meine Brust zu vibrieren. Ich sog die Energie mit einem langen Atemzug auf und blickte durch alles hindurch in die Weite derentwegen ich hier stand.
„Neun Monate sind eine lange Zeit. Eine lange Zeit für eine Reise. Eine lange Zeit für ein paar Wesen, eingesperrt in ein enges Gefährt, umgeben von Ungewissheit und Gefahr. Eine Reise zu einem Ziel jenseits aller Horizonte, die je bereist wurden. Eine Reise, deren wahres Ziel noch viel weiter entfernt liegt, in einer Zukunft, die keiner von uns mehr erblicken wird. Auf die wir nur hoffen können und an die ich, meine Damen und Herren, ich und viele andere mit mir, seien Sie vergewissert, aus tiefster Überzeugung und von ganzem Herzen wahrhaftig glauben.“
Erneut ließ ich den Sätzen einen Augenblick Zeit, sich zu entfalten. Ich lauschte ihnen selbst hinterher. Sie klangen lebendig und echt, als wären es meine eigenen Worte gewesen. Und doch wusste ich, dass sie nicht für mich gedacht waren. Dass nicht ich sie formuliert und zu Papier gebracht hatte, wie diemeisten der Worte, die vor mir auf den Bögen aus Papier auf dem hölzernen Pult lagen. Worte, die nicht ich heute hier hätte sprechen sollen.
„Neun Jahre ist es her“, ich wandte den Kopf ein wenig zur Seite und meine Augen fanden sofort den einzigen leeren Platz in diesem gewaltigen Saal, dem Zentrum der Macht unserer Welt, „dass hier in diesem hohen Haus, genau an der Stelle, von der aus jetzt ich zu Ihnen spreche, eine junge Frau vor uns stand. Eine Wissenschaftlerin, trotz ihrer Jugend bereits eine weltweite Autorität, als Professorin, als Forscherin, ein anerkanntes Genie. Eine Frau voller Enthusiasmus, Durchsetzungsvermögen und voll großer Visionen. Sie war Senatorin, eine von Ihnen. Sie war meine Tochter.“
Für einen kurzen Moment meinte ich das Blaulicht flackern zu sehen, dass die Nacht vor unserem Haus augenschmerzend zerrissen hatte, ich meinte die Stimme zu hören, die von allen Seiten Unverständliches auf mich einriefen, die zu erklären versuchte, was ich nicht erklärt haben wollte. Das rasende Klicken der Kameras ließ mich zusammenzucken, meine Hände verkrampften sich, mein Atem wollte nicht fließen. Mit schmalen Augen blinzelte ich in das helle Scheinwerferlicht. Dann war wieder Ruhe. Sie nickte mir zu. Ich erinnerte mich an ihr Lächeln, vertrieb die Erinnerungen an das zerstörte Gesicht, an den zerfetzten Körper, dorthin, wo ich sie bereits in den vergangenen neun Monaten tief in mir drin vergraben hatte.
„Heute vor neun Jahren, stand sie hier, um ihre Vision, ihren Plan mit uns allen zu teilen. Und was für ein Plan das war. Nicht nur eine Idee, nicht nur ein Vorschlag, es war damals bereits die Blaupause für die gesamte Mission. Die Triebwerke, die Versorgung, das Recycling, die Experimente, die Landung, die Rückkehr, die Zeitfenster, sie hatte mit ihrem Team mehr als ein ganzes Jahrzehnt an Arbeit und Entwicklung präzise vorausgeplant. Es war höchste Wissenschaft und dennoch klang es hier in diesen Hallen beinahe wie Poesie.
Poesie, die ansteckend war, mit der sie uns alle inspiriert hat. Diejenigen unter Ihnen, die dabei gewesen waren an jenem Tag, werden sicherlich nicht vergessen haben, wie es war, als der Funke übersprang. Wie sich das Gefühl des Aufbruchs ausbreitete und wie Sie – einstimmig und mit stehendem Applaus – das Kommando für die größte Reise aller Zeiten, für die Reise in eine neue Zukunft, voller Zuversicht und in vollstem Vertrauen in die zarten und doch so energischen Hände dieser außergewöhnlichen Frau gelegt haben,…“ mein Blick huschte durch die dichtbesetzten Reihen. Ich fand glasige Augen, wo ich sie vermutet hatte und leeres Starren ins Nichts, wo es zu erwarten gewesen war. Aber wo gab es ein Zucken? Wo kämpften die Geister? Ich suchte nach den Unentschlossenen. Einige glaube ich schon zu kennen. Wie viele gab es? Würden es am Ende genug sein? „…denen es vor neun Monaten mit bestialischer Gewalt wieder entrissen wurde.“
Ich ließ die Stille wirken, so lange sie gerade noch zu ertragen war.
„Neun Billionen, daran besteht kein Zweifel,sind ungeheuer viel Geld. Und in einer Zeit wie der unseren, in der Geld fehlt, um Kindern die Bücher für ihre Ausbildung zu bezahlen, in der Geld fehlt, um alten und kranken Menschen eine gleichsam effektive und würdige Pflege zukommen zu lassen, in der Geld fehlt, um für sauberes Trinkwasser und gesunde Nahrung zu sorgen, in solch einer Zeit solch eine unermessliche Summe zu bewilligen, für eine Vision, das wiegt schwer und lastet auf unseren Schultern, quer durch alle Parteien und Fraktionen. Ich weiß das, ich spüre das selber.
Aber ist es das? Ist es nur Geld, das die Stimmung gewendet hat? Sind neun Billionen in weiteren neun Jahren Grund genug dafür, dass sich Zuversicht in Ablehnung gewandelt, dass Verzagtheit den Enthusiasmus ersetzt hat und, dass einst leuchtende Augen sich zu engen Schlitzen voll Kurzsichtverengten? Ist Geld wirklich der Grund, warum weit offene Tore plötzlich durch steinerne Mauern versperrt sind und dass Hassprediger jetzt das Wort führen dürfen, so mächtig, dass sie Menschen zu unmenschlichen Taten treiben?
Oder sind es nicht viel ältere Ängste, die sich hier Bahn brechen, zurück an die Oberfläche unserer Seelen? Sind es nicht die Dämonen unserer eigenen Hybris, die uns davon abhalten wollen, hinauszutreten und hinter den Horizont unserer Ahnen zu schauen? Denn was, wenn es stimmt? Was, wenn wir Gewissheit erhielten? Was, wenn sich als Wahrheit manifestiert, wovor wir uns seit Urzeiten gefürchtet haben? Was, wenn wir uns selbst unserer Einzigartigkeit berauben?
Ist nicht das der wahre Grund für unser Zögern? Ist nicht das der Grund, warum …“
Ich senkte den Blick, zwang mich, nicht in die Reihen direkt vor mir zu sehen.
„Dort draußen“, ich richtete mich wieder auf und sah hinauf in die hohe Kuppel, durch deren bunt schimmernden Glasflächen hell und warm das Licht der Mittagssonne in die mächtige Halle floss. Ein Lächeln ließ meine Lippen sich öffnen um ihre Sätze zu wiederholen, „dort draußen, Senatorinnen und Senatoren, ist nichts, wovor wir uns fürchten müssten. Dort draußen, mag es uns auch noch so weit fort und noch so unwirtlich erscheinen, ist unsere Nachbarschaft. Dort, auf diesem gewaltigen Brocken aus Stein, übersät mit lavaspeienden Vulkanen umhüllt von giftigen Gasen, dort liegt, wenn es sie denn überhaupt gibt, unsere Zukunft. Dort ist der Boden, auf dem der Samen, den wir aussähen gedeihen kann. Was heute schwarzer, glühender Fels ist, kann eines Tages zum Fundament eines wogenden Waldes werden, wo heute noch kochende Brühe schwappt, kann morgen ein Ozean sein, voll mit ungezählten Variationen des Lebens. Was uns heute als dunkle Bedrohung erscheint, kann in einer fernen Zukunft zu unserem leuchtenden Bruder werden. Eine Welt, auf der wir dem Universum zurückgeben können, was wir ihm hier, in unserer Heimat, geraubt haben, eine Welt voller Wunder und Lebenskraft. Lassen Sie uns nicht zaudern. Lassen Sie uns nicht warten, bis es zu spät ist. Lassen Sie uns jetzt mutig sein und den Schritt wagen.
Brechen wir auf Richtung Sonne. Besuchen wir unseren großen Nachbarn. Machen wir aus einem düsteren Ort einen blauen Planeten, verwandeln wir ihn in eine lebendige Erde!“
Aus den Aufzeichnungen eines unbekannten Senators. Entschlüsselt und übersetzt von James B. Rogers und Jadranka Tschekorova in den Jahren 2036 – 2041. Gefunden 2033 in den Valles Marines, Mars. [© 2013, Daniel Carinsson, www.carinsson.com]
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