2020
Projekt Icarus: Tierforschung aus dem All
Im Rahmen des Projektes „ICARUS“ ( International Cooperation for Animal Research Using Space) wollen Wissenschaftler die globale Bewegungen und Wanderungen von tausenden Tieren in Echtzeit in einer noch nie dagewesenen Präzision vom Weltraum aus analysieren und dabei die Sinnesleistungen und Fähigkeiten von Tieren nutzen, um Daten über den Zustand der Erde gewinnen. Im Zuge der Evolution haben Tiere nämlich enorm leistungsfähige Sinnesorgane für die Perzeption unterschiedlichster Umweltinformationen entwickelt, die oftmals der modernen Technik überlegen sind: Für die animalische Erdbeobachtung wollen die Wissenschaftler die extrem empfindlichen und leistungsfähigen Sinnesorgane, wie Gehör-, Seh-, Geruchs-, Erschütterungs- oder Erdmagnetfeldsinnesorgane, die viele Tierarten im Zuge der Evolution entwickelt haben, nutzen. Zugute kommt den Wissenschaftlern, dass es fast keinen Ort auf unseren Planeten gibt, der nicht von irgendwelchen Tierarten besiedelt ist. Die Biosensoren für die Erdbeobachtung sind also immer vor Ort.
Weltraum-gestützte Monitoring-System Icarus
Das Projekt Icarus wurde von einem internationalen Wissenschaftlerteam unter der Leitung von Martin Wikelski vom Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie in Konstanz entwickelt. Es handelt sich um ein Kooperationsprojekt der Max-Planck-Gesellschaft, der russischen Raumfahrtbehörde Roskosmos und des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR). Der Name ICARUS steht International Cooperation for Animal Research Using Space.
Die Tiere werde mit winzigen Sendern ausgestattet, die laufend die Position und andere Daten an eine Empfangsstation auf der Internationalen Raumstation ISS übermitteln. Von dort werden die Daten an eine Bodenstation geschickt und in der frei zugänglichen Datenbank MoveBank veröffentlicht.
Quantensprünge für die Tierökologie und Ethologie
Mit ICARUS stehen die biologischen Disziplinen Ökologie und Verhaltensforschung (Ethologie) vor einem ähnlichen Quantensprung wie die Genetik Mitte der 1990er Jahre, als das humane Genom-Projekt zur Entschlüsselung des menschlichen Erbguts ins Leben gerufen wurde, denn es ist zu erwarten, dass Icarus unser Verständnis und Wissen von Tierverhalten, -ökologie und vom Planeten Erde ähnlich erweitern wird, wie das humane Genom-Projekt unser Wissen über unser Genom enorm erweitert hat. Bislang konnten Biologen Tiere nur für vergleichsweise kurze Zeit beobachten. Wissenschaftliche Erkenntnisse, die mit beringten oder markierten Tiere gewonnen wurden, stoßen aber schnell an ihre Grenzen. Aus solchen Daten konnten Wissenschaftler nur wenig über das Zug- bzw. Wanderverhalten von Tieren erfahren. Das ist auch der Grund, warum nur etwa ein Prozent der Lebenszeit von Wildtieren bekannt ist. Über besonders verborgen lebende oder seltene Arten wissen wir noch viel weniger. Radiotelemetrische Daten lieferten schon bessere Daten und mehr Erkenntnisse. Doch auch die Reichweite von Radioantennen, die Biologen benutzen, um radiotelemetrische Daten über das Tierwanderverhalten zu gewinnen, ist begrenzt.
Telemetrie im Rahmen von ICARUS
Mit den Miniatursendern (Tags), mit denen die Tiere im Rahmen von ICARUS ausgestattet werden, können Wissenschaftler Tiere nun ununterbrochen über einen langen Zeitraum beobachten, unter Umständen ihr ganzes Leben lang. Diese Technik nennt man Telemetrie. Die Icarus-Daten werden den Forschern zeigen, wo die Tiere sind und wie sie sich bewegen. Aber auch, mit wem sie zusammen sind, wie es ihnen geht und wie es in ihrer Umgebung aussieht.
“Die Tags zeichnen die Position des Tieres und seine Bewegungen zusammen mit Umgebungsdaten, wie etwa Temperatur und Luftdruck, auf. Die Daten werden dann zunächst lokal gespeichert, bevor sie ins All gesendet werden.”
Johannes Weppler, ICARUS-Projektleiter am DLR.
Ein integriertes Computerprogramm im Sender gleicht die Umlaufbahn der ISS mit den eigenen Positionsdaten ab. Sobald die Raumstation in Funkreichweite ist, wird das Sende- und Empfangsmodul des Tags aktiviert, welches dann Kontakt zur ICARUS-Antenne an der Außenseite der ISS aufnimmt.
Mit Verzögerung in Betrieb genommen
Mit einer russische Sojus-Kapsel wurde die 200 kg schwere ICARUS-Antenne bereits im Februar 2018 zur internationalen Raumstation ISS gebracht, aber erst am 13. März 2020 konnte das Beobachtungssystem für Tierwanderungen erfolgreich in Betrieb genommen werden. Ursprünglich war die Inbetriebnahme von ICARUS bereits für den Sommer 2019 geplant, was aber durch einen technischen Defekt des Onboard-Computers des ICARUS-Systems nicht möglich war. Kosmonauten an Bord der ISS bauten den defekten Computer aus und schickten ihn im September 2019 mit einem unbemannten Sojus-Flug zurück zur Erde. Anschließend analysierten die deutschen und russischen Experten die Fehlerquelle und bereiteten gleichzeitig einen Ersatzcomputer für den Start zur ISS vor. Im Dezember 2019 schließlich hob der neue Computer mit dem russischen Frachter Progress MS-13 vom Kosmodrom in Baikonur ab und erreichte kurze Zeit später die ISS. Dort wurde er von den Kosmonauten installiert und kurz vor Weihnachten erstmals kurz eingeschaltet. Diesmal funktionierte die Technik einwandfrei und konnte daher in Betrieb genommen werden. Jetzt folgt eine mehrmonatige Testphase, in der die Sender sowie die Systemkomponenten am Boden und an Bord der ISS geprüft werden. Nach Abschluss aller Tests wird „Icarus“ den Nutzern voraussichtlich im Herbst 2020 zur Verfügung stehen.
“Mit Icarus können Wissenschaftler erstmals tausende von Tieren auf ihren Reisen rund um den Globus beobachten – und das über Monate und Jahre hinweg, rund um die Uhr. 150 Forschungsprojekte warten schon darauf, von den neuen Möglichkeiten Gebrauch zu machen.“
Martin Wikelski, Direktor am Max-Planck-Institut für Ornithologie in Radolfzell und Leiter der Icarus-Mission
Forschungsprojekte im Rahmen von ICARUS
Von größtem Interesse ist für die Wissenschaftler das Verhalten der Zugvögel, denn ihre Zahl nimmt gegenwärtig weltweit sehr drastisch ab. Die Wissenschaftler sind hier unter enormen Zeitdruck, denn sie müssen die Ursache für die Abnahme der Zugvögelpopulationen erforschen. Wenn sie hier nicht schnell Antworten bekommen, um Gegenmaßnahmen zu ergreifen, wird es für viele Arten zu spät sein. Dasselbe gilt für die massiv ausgebeuteten Fischbestände sowie viele Meeressäuger in den Ozeanen. Die SARS-CoV-2-Pandemie mit der die Welt gerade konfrontiert ist, führt uns vor Augen, dass wir dringend mehr darüber wissen müssen, wie Tiere Krankheitserreger verbreiten. Wie kommt die Vogelgrippe nach Europa? In welchen Tieren (Reservoir- bzw. Zwischenwirt) kommen Viren wie Ebola oder Corona vor? Um diese Fragen zu beantworten, wollen die Wissenschaftler künftig mit Icarus die Flugrouten von Wasservögeln in Asien und Flughunden in Afrika verfolgen. Beide gelten als mögliche Überträger der Erreger.
Darüber hinaus wollen die Wissenschaftler im Rahmen der Icarus-Forschungsprojekte lernen, welche Tierarten Naturkatastrophen vorhersagen können. Erste wissenschaftliche Daten von Erdbeben und Vulkanausbrüchen legen nahe, dass verschiedene Tiere solche Ereignisse Stunden vorher spüren. Die Wissenschaftler arbeiten nun daran, mehr darüber zu lernen, mit welchen Sinnesleistungen diese Tiere solche Naturereignisse erfassen, um daraus Frühwarnsysteme zu schaffen, die in Zukunft hunderttausenden Menschen das Leben retten könnten.
Weltraumtechnik setzt neue wissenschaftliche Maßstäbe in der Tierforschung und Erdbeobachtung
Mit Hilfe der ICARUS-Tiersensoren wollen die Wissenschaftler Naturkatastrophen vorhersagen, die Ausbreitung von Infektionskrankheiten verfolgen, Klimaveränderungen erkennen und bedrohte Tierarten besser schützen. Und nicht zuletzt lernen die Wissenschaftler viel über das Leben und Verhalten von Tieren.
Links:
- Max-Planck-Webseite des Icarus-Projekts: https://www.icarus.mpg.de/de
- Forschungsprojekte im Rahmen von Icarus: https://www.icarus.mpg.de/4296/projekte
Autor: Dr. Hubert Untersteiner (ÖWF)
- Tagged:Frühwarnsystem, ICARUS, ISS, Tierverhalten, Tierwanderung
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