2012
Medizin & Raumfahrt: Tief einatmen, Rusty!
NASAs Nasenspray gegen Raumkrankheit
Das man sich in der Kälte des Alls rasch eine Erkältung zuziehen kann liegt nahe. Das die medizinische Forschung im Weltraum aber auch Auswirkungen auf unser Wohlbefinden hier am Erdboden hat, überrascht auf den ersten Blick. Daher hat sich das Österreichische Weltraumforum entschlossen dem Thema „Flug- und Raumfahrtmedizin“ eine eigene Kolumne zu widmen. Die geneigte Leserin und der interessierte Leser können sich hier in kleinen Häppchen unterhaltsame und informative Einsichten für den Alltag mitnehmen. Infotainment to go!
5. März 1969, Apollo 9, Erdorbit. Weltraum-Greenhorn Russell „Rusty“ Schweickart steht kurz vor seinem historischen Umstieg von der Apollo-Kommandokapsel in die Mondlandefähre. Sein Gesicht jedoch wechselt durch alle Farben des Regenbogens, er fühlt sich wie ein Bräutigam vor dem Altar. Es hat ihn erwischt. Die Raumkrankheit, Seekrankheit beziehungsweise Landkrankheit (für Seeleute auf Landgang), Luftkrankheit, Bewegungskrankheit, Reisekrankheit oder medizinisch ausgedrückt eine ausgewachsene Kinetose (von kinein, griechische für „bewegen“). Die Symptome: Übelkeit, Erbrechen, Schweißausbrüche, Schwindel, Pulsanstieg. Alles gleichzeitig.
In einem Interview mit Rebecca Wright am 19. Oktober 1999 in Houston, Texas, formulierte er es folgendermaßen:
»[…] This was early in the morning before getting ready to go into the lunar module. I sort of slowed down to try and take it easy, but once that process of malaise starts going, you know, it kind of has a natural dynamic. So suddenly I had to barf, and I’m grabbing for a bag, barfed in the bag, and, I mean, that’s not a good feeling. But, of course, you feel better after you barf, like anytime you get motion sickness, you feel better after it, but you don’t like to do it. Of course, that was sort of a warning shot. I mean, you know, oooh, we got a problem here? […]« (1)
Dieser Zustand hielt noch ein paar Tage an. Armer Rusty. Es gab nur einen Astronauten der ihn übertraf. Frank Boreman, der auch Pate für das obere Ende einer Skala für Übelkeit in der NASA stand. Sie reichte von „Mild malaise“ bis „Frank vomiting“.
Doch was löste bei diesen durchtrainierten, furchtlosen Männern derartige körperliche Reaktionen aus?
Das im Innenohr befindliche Gleichgewichtsorgan, das uns mit seinen drei Bögen Informationen über die Raumebenen recht-links, vorne-hinten und oben-unten signalisiert, wird bei freier Bewegung in der Schwerelosigkeit überfordert. Die optischen Reize, die dabei über die Augen via Nervus opticus in den Lobus occipitalis (Rechenzentrum für die Augen) eingehen tragen maßgeblich zur Verwirrung des zentralen Nervensystems bei. Man denke an optische Täuschungen aus der Imagination eines M. C. Escher, die nach oftmaligem Konsum ebenfalls zu Schwindelzuständen führen können. Spezielle Chemorezeptoren im Gehirn leiten daraufhin bei Überaktiverung Abwehrreaktionen aller Art ein. Da unser Körper evolutionär durch den aufrechten Gang an „zweidimensionale“ Spaziergänge durch die Steppe gewöhnt ist, überreizen Sinneseindrücke bei Bewegungen in der dritten Dimension das vegetative Nervensystem, was zu Übelkeit, Schwindel und Erbrechen führt.
Gefährlich wird dieser Zustand, wenn der Spaziergang im All stattfindet. Erbrochenes im Helm kann zum Tod führen.
Man fragt zu recht: »Werden Astronauten den nicht vorher auf Raumkrankheit getestet?« Ja, werden sie. An einen Stuhl geschnallt, der sich unerbittlich so lange dreht, bis der Proband oder dessen Innereien reagieren.
Bedenkt man, dass dieser „rotating chair“ aus einer ganz anderen Ecke der Wissenschaft kommt, bekommen die Bemühungen der NASA eine äußerst süffisante Note.
Der so genannte „Cox’s Chair“, war ein therapeutisches Hilfsmittel für Psychiatriepatienten Mitte des 19. Jahrhunderts. Dr. Joseph Cox war ein angesehener britischer Arzt, der sein Leben ganz in den Dienst der medizinischen Forschung stellte. Er experimentierte mit schwingenden Betten und rotierenden Kisten, um manischen und psychotischen Patienten Heilung zu verschaffen. In der Werbung für die dritte Auflage seines Bestsellers „Pracitcal Observations on Insanity“, 1813, erklärt er:
»He [Cox] has persisted in the application of motion, in various directions and modes, by means of swings and other machinery, to certain classes of maniacs; and is convinced that no remedy is capable of effecting so much with so little hazard, and is decidedly of opinion that in almost every case it will produce perfect quiescence, allay all irritation, silence the most vociferous and loquacious, diminish that determination of blood towards the head, and that excessive heat of the surface, which so frequently obtain in some species of mania, will assist the action of other remedies and medicines, and procure sleep after every other anodyne has failed.« (2)
Er war überzeugt davon ein Allheilmittel für psychisch Kranke gefunden zu haben.Was für ein Glück, dass 1875 unter der Bezeichnung „Studien für Apotheker“ an den europäischen Universitäten erste Lehrgänge implementiert wurden, die die Medizin in eine menschenwürdigere Richtung lenkten.
„Wundermittel“ Scopolamin
Das Mittel der Wahl gegen die Reisekrankheit ist bei „Zero-Gravity“-Parabel-Flügen im Moment Scopolamin. Dies wirkt sowohl gegen das Erbrechen (Antiemetikum), als auch gegen das Schwindelgefühl (Antivertiginosum). Scopolamin hat allerdings auch die unangenehme Nebenwirkung, dass es zu Apathie und Willenlosigkeit führt. Aus diesem Grund war es in den 1950er Jahren bei einigen Geheimdiensten als Wahrheitsserum sehr beliebt. Um diesem Zustand entgegenzuwirken, verabreichen die Flug-Ärzte der NASA Scopolamin gerne in Kombination mit ScopDex, einem Dextroamphetamin, das stimulierend auf den Astronauten wirken soll.
Daraus kann man ersehen, dass eines der Hauptprobleme die adäquate Dosierung Scopolamins ist und genau aus diesem Grund wünscht sich die NASA nun einen Nasenspray, der das Medikament über die Schleimhäute wirksam in den physiologischen Kreislauf einbringt. Schnellere und effektivere Hilfe, als eine orale Zufuhr. INSCOP, intranasales Scopolamin, soll das Wundermittel heißen und in Zukunft in die Brusttasche jedes Astronauten-Overalls gepackt werden. (3)
Dass es den Reisenden Linderung zu Wasser, zu Land und in der Luft bringen könnte, steht zu hoffen.
Auf jeden Fall würde Astronauten in der ISS ein schneller Druck auf ein Plastikfläschchen das wissenschaftliche Leben erleichtern. Wenn noch jemand auf die schöne Idee kommt dem Gemisch etwas beruhigenden Limettenduft beizumengen, dann wären die Mägen von Rusty Schweickart und Frank „Vomiting“ Boreman nicht umsonst losgedonnert, um die Menschheit ein Stück weiter ins All zu bringen.
Quellen:
(1) Schweickart, Russell L., Oral history, Johnson Space Center Oral History Project
(2) Joseph Cox, „Pracitcal Observations on Insanity“, 1813, London: Baldwin and Underwood
(3) Medical Daily, Amber Moore, “NASA develops nasal spray for motion sickness”, 13. Oktober 2012
(4) Packing for Mars, Mary Roach, Oneworld Publications 2010, ISBN: 987-1-85168-780-0
(c) FStummer, 5.11.2012
Florian Stummer studiert Medizin in Innsbruck, ist ausgebildeter Wissenschaftsjournalist und schreibt derzeit an seiner Diplomarbeit im Fach Orthopädie.
Dieser Artikel ist auch verfügbar auf: Englisch
- Tagged:Forschung, NASA, Wissenschaft
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