2013
„Wir sind nicht nur für das verantwortlich, was wir tun, sondern auch für das, was wir nicht tun.“
(Molière)
Dieser eindrückliche Satz wird auf der Homepage des österreichischen Projekts „Tschernobyl-Kinder“ zitiert. Der Name der kleinen Stadt Tschernobyl ist der ganzen Welt bekannt, seit es am 26. April 1986 in einem Kernkraftwerk nahe der Nachbarstadt Prypjat zum bisher schwersten Nuklearunfall der Geschichte kam. Technisch als „auslegungsüberschreitender Störfall“ eingeordnet, hatte die Reaktorexplosion schlimme Auswirkungen. Über 200.000 Quadratkilometer in der Ukraine, Russland und Weißrussland wurden schwer kontaminiert. Hunderte Personen starben, tausende mussten umgesiedelt werden, hunderttausende mussten bei der „Liquidierung“ der Katastrophe helfen. Das Gemeinste aber: Obwohl der Reaktor des Blocks 4 vor 27 Jahren explodierte, ist das Drama noch immer nicht vorbei.
Filmschnitt. Ein herrlicher, heißer Sommertag in Hagenbrunn in Niederösterreich, nahe Wien. Es ist Dienstag, 18. Juli 2013, und wir biegen in einem schwer beladenen Kombi aus der Dorfhauptstraße in die Einfahrt des örtlichen Kindergartens ab. Hinter uns stapeln sich Kinder-Raumanzüge, ein Modellhubschrauber, Laptops, Planetenmodelle. Vor uns liegt ein Tag, von dem wir noch nicht wissen, wie er wird, von dem aber schon jetzt, um zehn Uhr vormittags, klar ist, dass er ganz anders wird als alles, was wir mit dem ÖWF bisher erlebt haben. Wir besuchen dreißig kleine, aufgeweckte, neugierige Kinder – ein bunter Haufen. Keines spricht unsere Sprache. Jedes von ihnen ist entweder todkrank, Waisenkind oder Sozialwaise. Es sind die Kinder von Tschernobyl.
Ein Projektteam, aufgebaut und geleitet von Dr. Christoph Otto, holt seit Jahren ukrainische Kinder zu Erholungsurlauben nach Österreich. „Drei Wochen gutes Essen, gesunde Natur, fürsorgliche Betreuung, anregende Erlebnisse und medizinische Hilfe in Österreich“, so fasst das Projekt dieses spendenfinanzierte Angebot zusammen. Es ist nicht die einzige Aktion der „Tschernobyl-Kinder“: Im Osten der Ukraine werden auch Krankenhäuser, Behindertenzentren, Kindergärten und Waisenheime betreut. Das ÖWF hat sich gedacht: Wenn die kleinen Gäste schon zum ersten Mal in ihrem Leben eine Flugreise bis ins ferne Österreich machen, dann kann man sie auch noch zu den Sternen mitnehmen. Deshalb sind wir hier.
Um es vorweg zu nehmen: Für Betroffenheit ist hier nicht im Ansatz Platz. Das lassen einerseits die Kinder gar nicht zu, die nach einer kurzen andächtigen „Auftau-Phase“ das tun, was sie eben am besten können: Kinder sein! Darf ich den Computer angreifen? He, nimm mir den Helm nicht aus der Hand! Ich will auch! Andererseits verlangt die Situation nach unserer Aufmerksamkeit: Wir müssen die Weltraumgeschichten, die wir mitgebracht haben, in gut verstehbare, einzelne Happen teilen – denn was immer wir sagen, muss simultan ins Ukrainische übersetzt werden. Die Doppel-Conferencen mit den Betreuerinnen funktionieren im Handumdrehen.
Zunächst fliegen wir quer durchs Sonnensystem. Man hat uns gewarnt: Bitte nicht zu viel erwarten, diesen Kindern fehlt es zu Hause an allem. Doch es passiert, was wir im Stillen natürlich trotzdem erwartet haben: Bei jeder Frage schnellen Arme in die Höhe – wie heißt der rote Planet? Mars! – und die Kleinen zeigen, dass sie das sind, was wir alle sind: neugierig! Dann geht es ins Freie, und hier wartet der Höhepunkt: Sie alle dürfen, schön nacheinander, für einen Moment in ihrem schwierigen Leben selber Astronaut sein, mit allem, was dazugehört: Helm, Handschuhen, Stiefeln, Sauerstoffgerät, Funk. Im Akkord ziehen wir an, ziehen wir aus, wer hat noch nicht? Und plötzlich helfen uns kleine Hände: Blitzschnell haben die Kinder die Handgriffe gelernt und helfen sich nun gegenseitig. Es kommt auch zu kuriosen Momenten: Ein Mädchen zieht partout keine Schuhe an, auch keine Astronautenstiefel, und so haben wir eben unseren ersten Barfuß-Astronauten der Geschichte.
Wenig später, als die Aufmerksamkeit nachlässt, kommt die Höllenmaschine zum Einsatz: es wird laut, es dreht sich, es macht Wind – der beeindruckende Modellhubschrauber, der langsam über die Kindergruppe schwebt. Andächtig schauen sie ihm nach, die Kleinen und nicht mehr ganz so Kleinen. Wir machen Gruppenfotos aus zwanzig Metern Höhe, und dann geht es noch ein Stück weiter hinauf in den Himmel, bis wir über Monitore auch noch den Heurigen sehen, bei dem wir wenig später zum Mittagessen eingeladen werden. Die lokalen Organisatoren sind übrigens allesamt ehrenamtliche Helfer, die teilweise schon seit Jahren dabei sind. – Für uns selbst heißt es Abschied nehmen von der ersten Gruppe, als die Sonne zur Mittagszeit am höchsten steht; hundert Kilometer weiter westlich wartet die zweite Gruppe in Ybbs an der Donau, andere kleine Leute mit großen Schicksalen, die gleiche Scheu zu Beginn, die gleiche Begeisterung am Ende.
Ein langer Tag geht auf der Westautobahn zu Ende, während wir nach Hause, nach Linz und Salzburg, fahren. Das Auto ist jetzt noch voller als vorher: im Seitenfach der Tür steckt eine selbst gebastelte Dankeskarte, eine kleine Flasche Likör, eine Schokolade. Geschenke von denen, denen wir etwas schenken wollten. Das ÖWF war nicht zum letzten Mal zu Gast bei den Gästen aus der Ukraine.
Guten Tag, liebe Freunde! Ich danke Euch für die Gastfreundschaft und die Wärme Eurer Herzen. Die Tage in Österreich haben mir geholfen, an mich selbst zu glauben, dass ich auch etwas wert bin. Das bleibt ewig in meiner Erinnerung!
Andriy Istchenko
Bericht: Alexander Soucek und Gerhard Grömer
Mehr zum Thema:
www.global2000.at/themen/tschernobyl-kinder
- Tagged:Bildung, Charity, Kinderraumanzüge, Modellubschrauber, Tschernobyl
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