2020
Wie wir auf der Couch zu Astronauten werden können

Isolation, Langeweile und Zusammenleben auf engem Raum – diese Beschränkungen erfahren gerade viele Menschen, die durch die Auswirkungen von Covid-19 mit Ausgangssperren, Quarantäne oder vermehrt reduziertem Kontakt umgehen müssen. Gleiche Bedingungen gelten auch für AstronautInnen, die sich längere Zeit im Weltraum befinden. Zukünftige Marsmissionen erfordern konkret, dass Menschen monatelang auf engem Raum in einer Kleingruppe miteinander leben und arbeiten. Gleichzeitig erleben sie reduzierten Kontakt zur Erde und können oft nur mittels zeitverzögertem Chat mit Familie oder Freunden kommunizieren.
Sensorische Deprivation und Langeweile, bedingt durch eine monatelange interplanetare Reise können dazu führen, dass astronautische Gruppen mit erhöhter Depressivität, circadianen Unstimmigkeiten und einem Abfall der Leistungsfähigkeit reagieren. Covid-19 führt dazu, dass wir alle den psychologischen Erfahrungsraum von AstronautInnen genau erkunden müssen. Der Vorteil hierbei: Die Weltraumpsychologie untersucht diese Phänomene schon seit Jahrzehnten und hat zahlreiche Möglichkeiten entwickelt, Menschen in extremen Umwelten – wie dem Weltraum oder der eigenen Wohnung – so zu unterstützen, dass Lagerkoller und Langeweile überwindbar werden. Diese Impulse könnten uns helfen, die aktuelle Zeit physisch, und auch psychisch gesund, zu überstehen.
1. Bedürfnisse definieren
Die Grundvoraussetzungen für einzelne Menschen zu Zeiten von Corona sind sehr divers, was zu individuell unterschiedlichen Bedürfnissen führt. Diese gilt es im ersten Schritt für sich selbst abzuklären.
Wenn wir viel Zeit im eigenen Wohnraum verbringen müssen, spielen die Größe und Ausgestaltung des Wohnraums eine zentrale Rolle. Genauso unterscheidet sich auch, ob wir unsere Wohnung alleine bewohnen oder sie mit MitbewohnerInnen/PartnerInnen teilen – und wie sehr das von unserem eigenen Bedürfnis nach Autonomie und Ruhe, oder auch Verbundenheit und Geborgenheit abweicht.
Ausgangssperren und Quarantäne könnten belastender für Menschen sein, deren Wohnraum zu klein oder zu hellhörig ist, und dadurch wenig Rückzug und Geborgenheit ermöglicht. Eine Zweck-WG verlangt, dass sich mit fremden Menschen gut arrangiert wird. Wer alleine lebt, sich aber mehr Kontakt zu Menschen wünschen würde, erfährt die Folgen von Isolation und dem Ausbleiben von physischer Berührung.
Wichtig ist daher, die eigenen Bedürfnisse individuell zu definieren. Wünsche ich mir mehr Kontakt zu Menschen? Fehlt mir in der Wohnung ein privater Rückzugsraum? Leide ich darunter, dass meine gewohnte Tagessstruktur fehlt? Oder vermisse ich es einfach nur zum Sport zu gehen?
2. Rückzug im Mikrokosmos
Wer seinen Wohnraum mit Partnern oder Mitbewohnern teilt, wird sich gelegentlich Rückzug und Abgrenzung wünschen, die sonst durch Sport, Arbeit und das Leben im öffentlichen Raum ermöglicht werden. Auch wenn Menschen von Natur aus sozial veranlagt und interessiert sind, spielen Autonomie und Freiheit ebenso eine wichtige Rolle. Zeitweises Alleinsein kann für Erholung und Kreativität gleichermaßen sorgen.
Hier ist es wichtig, die Probleme für den eigenen Wohnraum klar zu definieren. Um die Möglichkeit der Abgrenzung zu unterstützen, kann man gemeinsam mit den Mitwohnenden ‚private‘ und ‚öffentliche‘ Räume klar definieren. In Wohnungen, in denen alle Räume von allen Mitgliedern gleichermaßen genutzt werden (oft Partnerwohnungen), können Raumstundenpläne helfen, die einzelnen Menschen Freiräume zugestehen. So kann jede/r das Arbeitszimmer zwei Stunden für die eigene Kreativität nutzen, genauso kann ein Entspannungsbad so geplant sein, dass es nicht mit der Zähneputzroutine des/der Mitbewohners/in kollidiert. Genauso benötigen einzelne Menschen möglicherweise verstärkte Unterstützung, da sie im Home-Office weiterarbeiten müssen oder für eine Prüfung lernen möchten. AstronautInnen berichten hier, dass sie die wenigen Quadratmeter individuellen Lebensraums als sehr wichtig zur räumlichen Abgrenzung empfunden haben, um eigene Fotos oder Erinnerungen anzubringen – oder sich in den Astronautenschlafsack zurückziehen zu können.

3. Soziale Isolation vermeiden
Für Menschen, die alleine leben und wenig Zugang zu Familie oder LebenspartnerInnen haben, könnten Quarantäne zu Isolation und daraus resultierenden Gefühlen von Einsamkeit führen. Geplante Verabredungen mit Freunden über Skype oder Telefon, oder das gemeinsame virtuelle Mittagessen mit den ArbeitskollegInnen schaffen die Aussicht, miteinander in Kontakt zu bleiben. Aktives Zuhören soll ebenso das Oxytocinlevel anheben, wie der direkte Kontakt zu Menschen. Auch wenn direkte Berührung und Umarmungen von vielen bevorzugt werden, kann eine virtuelle Begegnung vorrübergehend durch diese Zeit begleiten und soziale Isolation vermeiden. AstronautInnen, die soziale Isolation gelebt haben, berichten, dass vor allem das Einhalten sozialer Routinen in Form von Geburtstagen, Festen oder gemeinsamer Rituale hilfreich sei.

4. Räumliche Einengung bewältigen
Menschen in besonders kleinen Wohnungen können schnell das Gefühl des Eingesperrt sein empfinden. AstronautInnen berichten, dass dabei auch sensorische Deprivation – das heißt das Ausbleiben kognitiv anspruchsvoller Stimuli wie Temperaturwechsel, Wind, taktile Erfahrungen oder wechselnde Gerüche – fehlen würden. Das menschliche Gehirn ist durch unsere meist vollen, reizüberflutenden Alltagsbeschäftigungen an eine Fülle von Impulsen, Gerüchen und Geräuschen gewöhnt. Ein vollständiges Ausbleiben von Reizen – oder Einengung durch reduzierten Bewegungsfreiraum können die Stimmung trüben, zu Energielosigkeit oder Gereiztheit führen. AstronautInnen auf der ISS berichten hier, dass sie vor allem der Anblick der Erde immer wieder neu motiviert und auch begeistert hat. Für uns, die auf der Erde leben, kann jedoch auch die bewusste Konzentration auf gewisse Reize fördernd wirken. Unterstützend dabei können angeleitete Imaginationsübungen (Youtube), aber auch die bewusste Konzentration und achtsame Widmung zu Gerüchen oder Berührungen sein, die eine neuronale Aktivität befördern und damit für nötige Entspannung der Gehirnzellen sorgen.
5. Tagesstruktur einhalten
Menschen in Studium, Ausbildung oder Berufstätigkeit profitieren von einer klar vorgegebenen Tagessstruktur, die durch Kurzarbeit, Home-Office-Tätigkeit oder das Ausbleiben von Arbeit beeinträchtigt werden könnte. Im Kontext psychischer Erkrankungen, aber auch, wenn durch verschobenen Tag-Nacht-Rhythmus eine Tagesstruktur ausbleibt, beobachten wir, dass die Leistungsfähigkeit und individuelle Stimmung abnimmt. Probanden des Mars500-Experiments bestätigten, dass eine feste tägliche Struktur, die einem wiederholten Rhythmus folgt, unterstützend wirken kann. Dabei helfen feste Aufsteh- und Zubettgehzeiten. Dazu können Wochen- und Tagespläne helfen, geplante Tätigkeiten auch realistisch umzusetzen.
6. Perspektivplanung und Hoffnung
In der astronautischen Raumfahrt beobachten wir das Phänomen des dritten Viertels. Demnach verschlechtert sich der psychische Zustand von AstronautInnen kurz nach der Hälfte der andauernden Mission, unter der folgenden Begründung: die erste Hälfte wurde schon erfolgreich absolviert, gleichzeitig tritt in Bewusstsein, dass genau dieselbe Zeitdauer noch einmal erlebt werden muss. Unsere Erfahrung zeigt, dass eine Perspektivplanung schwierige Zeiten kompensieren kann: worauf freuen wir uns nach überstandener Herausforderung? Welche Pläne schmieden wir? Vor allem in einer Zeit, in der die Perspektive aufgrund sich immer wandelnder Zustände schwierig ist, hilft es sich kurz- und langfristige Ziele wiederholt in Erinnerung zu rufen. Was möchte ich dieses Wochenende erreichen? Worauf freue ich mich, wenn ich meinen gewohnten Alltag wieder leben kann?
7. Humor und Akzeptanz
Es wird im Leben immer Situationen geben, die schwierig, traurig und frustrierend sein werden. Humor, in Form von passenden Memes, und ein wenig Eigenironie können helfen Krisenzeiten zu überstehen. AstronautInnen vertrauen hier gerne auf fröhliche Routinen in Form von Morgenliedern, oder auch gruppeninternen Ritualen und Witzen. Darüber hinaus kann es helfen, sich immer wieder in Erinnerung zu rufen, warum wir diese Situation gerade durchleben: um uns und andere gemeinsam zu unterstützen.


Autor: Alexandra Hofmann, Psychologin und ÖWF Teamleitung Human Factors
- Tagged:Corona-Virus, Covid-19, Isolation, Psychologie, Tipps
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